Christine Berndt
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„Manchmal träume ich nachts von Musik“
Die Opernskulptur „Dorle“ als Experiment an der Grenze zwischen Dokumentation, Performance und neuer Musik
Svenja Moor

Eine Sängerin steht im Obergeschoss eines Wachturms in Berlin-Treptow, Relikt der Grenzanlagen, die – lange scheint es her – die Stadt geteilt haben. Sie singt, spricht, flüstert, spielt Flöte. Niemand hätte an diesem Geschehen teil, würden nicht vier Kameras ihr Bild aufzeichnen, das an die Außenwände des Wachturms projiziert wird, und würde nicht ein Mikrofon den Ton in den Außenraum tragen. Die Situation, es ist die Uraufführung der Opernskulptur „Dorle“ an einem Abend im Mai 2008, ist privat und öffentlich zugleich. Unter dem Licht der Projektoren und der nach außen dringenden Instrumental- und Gesangsstimme „lösen“ sich die Außenwände des Wachturms auf. Der wehrhafte Wachturm erlebt seine temporäre Wandlung in eine transparente Skulptur, wird zum weithin sichtbaren Display eines inneren Konflikts, dessen gesellschaftliche Tragweite nicht erkannt ist, wenn man ihn einen persönlichen nennt. Die Opernskulptur ist der Versuch, sich einer Biografie zu nähern, der Geschichte einer Frau, die „Dorle“ genannt wird. Christine Berndt hat dazu Mittel des Dokumentarischen mit Performance und Musik verbunden und auf diese Weise einen Weg gefunden, den Besuchern des Wachturms ein Stück von „Dorles“ Geschichte zu vermitteln.

Die Herrschaftsarchitektur des Wachturms bildet den physischen Bezugsrahmen für die Annäherung an eine Frau, deren Familiengeschichte auf paradigmatische Weise deutsche Geschichte erzählt. Die Komplexität des zu Vermittelnden hat Christine Berndt zu einer fragmentierten, mit Zitaten arbeitenden, die Zeit und das Wissen des Besuchers miteinbeziehenden Darstellungsform geführt. In Reaktion auf die Unmöglichkeit, eine Geschichte, die sich in Zeit und Raum ereignet hat, in Gänze wiederzugeben, entstand mit der Wachturmskulptur eine eigene Zeit, eine Raum-Zeit-Schleife, in die man durch das Betreten des Wachturms hinein geriet und die man gleichzeitig mit dem Wachturm wieder verließ, während sich in der Zwischenzeit eine Art Hypergegenwart ereignete. Dieser Eindruck wurde durch die Text-, Ton- und Bildschleifen erzielt, dem vorherrschenden Stilprinzip auf den drei bespielten Etagen des Wachturms. Die Flüchtigkeit der Medien – die Videoprojektion im Erdgeschoss, das ebenfalls projizierte umlaufende Textband im Zwischengeschoss und der Gesang von „Dorle“ als Audiospur im Obergeschoss – betonten ebenfalls das Moment absoluter Gegenwart.

Betrat man den Wachturm, was nach der Uraufführung für die anschließenden vier Wochen möglich war, befand man sich unmittelbar in einer Projektion: Auf dem Fußboden, direkt hinter dem Eingang, Auszüge aus der Deutschen Wochenschau im Zeitraum 1942 bis 1945, Verweis auf „Dorles“ Vater, der den Krieg als General der deutschen Wehrmacht vor Stalingrad erlebte. Die Videoinstallation mit dem Titel „Propaganda“ beschränkte sich jedoch auf Szenen, die von alltäglichen und scheinbar peripheren Ereignissen berichten. Schnitt, Überblendungen und nachträglich eingefügte Zeitlupen formten aus dem Archivmaterial einen höchst suggestiven Bilderstrom von 15 Minuten Länge (im Loop), der die Wirkung des propagandistischen Materials nochmals potenzierte. Basierend auf dem jeweiligen Erfahrungshorizont des einzelnen Besuchers ließ die mit dem Prinzip der Lücke arbeitende Montage Platz für eigene Assoziationen und Ergänzungen.

Dieser erste Teil der Installation hatte eine sehr konfrontative Wirkung, inhaltlich begründet durch den Ursprung der Bilder aus der nationalsozialistischen Propaganda der gleichgeschalteten Medien, die von den Besuchern früher oder später erkannt und zugeordnet werden konnten. Damit korrespondierte eine physische Verunsicherung, hervorgerufen durch die unerwartete und nicht immer sofort als solche erkannte Projektion auf dem Boden, die sich abrupt nach dem Öffnen der Tür vor den Füßen auftat.
Kontemplative Ruhe dagegen fand sich nach dem Aufstieg in das zweite Geschoss. Auszüge aus „Dorles“ Tagebuch, die von der gescheiterten Republikflucht, der anschließenden Gefängnishaft und schließlich ihrer Tätigkeit als „Inoffizielle Mitarbeiterin“ der Staatssicherheit berichten, liefen als Textzeilen über die Wände des lichtlosen, nur durch Schießscharten gegliederten Raums. Dem Bild der kreisenden, nicht zum Abschluss gelangenden Gedanken folgend, wurden die Zitate in rot leuchtender Schrift in zwei Metern Höhe an die Wand projiziert. Bemerkenswert bleibt die Geschwindigkeit, mit der die Zeilen an den Wänden entlang glitten und die sich in ihrer Langsamkeit dem bloßen Informationsbedürfnis des Besuchers verweigerte, vielmehr zum Mitdenken, zum Lückenfüllen, zwang. Die 45-minütige, geloopte Projektion erforderte Konzentration. Wer sitzen blieb, Gefangener für kurze Zeit, wurde Zeuge des quälenden inneren Dialogs, den „Dorle“ führte, bis Krankheit und schließlich Tod ihn beendeten, ohne dass sie auf die Frage, warum sie tat, was sie tat, eine Antwort gefunden hatte.

Von der so genannten Freiwache drang der Gesang von „Dorle“, begleitet vom Spiel einer Bassflöte, durch den Wachturm, mal stärker, mal schwächer wahrnehmbar. In der Aufteilung in Gesang- und Flötenstimme, die sich mal überlagern und mal abwechseln, setzt sich der Dialog zwischen „Dorle“ und ihrem Alter Ego fort. Die Komposition von Helmut Oehring charakterisierte ein sparsamer Einsatz der musikalischen Mittel. Nur in wenigen Momenten des 20-minütigen Stücks durfte die Bassflöte ihre warme Stimme entfalten, meist war sie einfach Resonanzkörper von „Dorles“ Atem, der mal kraftvoll, mal keuchend geblasen, metallisch-hallende Geräusche erzeugte. Auch hier wurde das Prinzip der Montage eingesetzt: Zahlreiche Einspielungen unterschiedlichster Herkunft – Archivaufnahmen, Mitschnitte, Stimmen, Geräusche aus einem halben Jahrhundert deutscher Geschichte – verliehen der Komposition eine Vielschichtigkeit und Komplexität, so zum Beispiel die geflüsterte Stimme, die Passagen aus der Zeit vorträgt, die Dorle nach missglückter Republikflucht im Frauengefängnis Hoheneck verbrachte und die den Anfang ihrer Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit markiert. Aus dieser Zeit stammt auch der Satz „Manchmal träume ich nachts von Musik“. Hatten diese Träume damals für „Dorle“ etwas Tröstliches, weil sie die Möglichkeit der Flucht in eine andere Realität boten, so hat auch die alles durchdringende Musik in der Opernskulptur „Dorle“ ein transzendierendes Moment. Ohne „Dorles“ Fragen zu beantworten und ohne ein Urteil über ihr Leben zu fällen, erzeugt diese Musik Schönheit und damit einen Sinn, den „Dorle“ in ihrem Leben und Handeln vergeblich gesucht hat.

Svenja Moor ist Kuratorin der Letzten Überprüfung im Grenzwachturm Schlesischer Busch.