Christine Berndt
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Was wäre, wenn der einzige Moment von Wahrheit in „Dorles“ Leben ein Ereignis der Liebe gewesen wäre?
Dr. Leonhard Emmerling

„Dorle“ ist die Tochter eines deutschen Wehrmachtsgenerals und überzeugten Nazis, der in der russischen Gefangenschaft zum Kommunismus „konvertiert“ und als Leiter der Kasernierten Volkspolizei eine wichtige Rolle beim Aufbau der NVA in der DDR spielt. „Dorle“ ist 15 Jahre alt, als der Vater stirbt. Die Mutter „Dorles“, die den aus Russland heimkehrenden Ehemann nicht wieder erkennt, verfällt in schwere Depressionen, später begeht sie schließlich Selbstmord. „Dorle“ verliebt sich 1971 in einen Amerikaner, der nach acht Wochen schon wieder die Hauptstadt der DDR verlassen muss. Sie beschließt, ihm zu folgen, wird an der Tschechisch-(West)-Deutschen Grenze gefasst und für sieben Jahre inhaftiert. Sie wird in der Haft IM der Stasi, was nach 1989 publik wird. Ihre Versuche, sich mit den von ihr Ausspionierten in Verbindung zu setzen, sich mit ihrem Verrat an anderen und an sich selbst zu versöhnen, scheitern. Sie stirbt 2003 an Krebs.

Die beschönigenden Bilder deutscher Wochenschauen, die Textbänder mit Auszügen aus „Dorles“ Tagebüchern, der Operngesang – all diese Elemente in Christine Berndts „Opernskulptur“ haben etwas Falsches an sich. Über die idyllisierenden Bilder von den Wochenschauen ist kein Wort zu verlieren. Das Frappierende sind die Tagebuchaufzeichnungen. Trauer, Verzweiflung, Angst, Reue, Depression, all das ist zu fühlen, und doch ist es, als stammten die Worte von einer Person, die trotz aller Anstrengung, vorzustoßen, auf keinen Fall ihr Ziel erreichen will, stecken bleibt, unklar bleibt und unklar bleiben muss, um ihrer selbst willen.

Es ist, als ob Liebe diese Biographie durchkreuzte, wie ein Schnitt, diametral zu allem, was ihre Zeit ihr bot. Es ist, als ob die Liebe zwischen Vater und Mutter zerschnitten worden wäre durch die totalitären Phantasmen von Nazismus und Stalinismus, und als durchschneide ihre Liebe zu dem Amerikaner, die so ganz ungefüllt blieb, all das, was möglich gewesen wäre für sie, weil diese Liebe exakt der einzige Moment von Wahrheit war in einer Konstellation von Totalitarismen und Falschheiten. Totalitarismen, die nicht falsch waren, weil sie militant waren, sondern weil der eine (Nazismus), das Simulakrum eines „Ereignisses“ war, insofern, als er eine Fülle zu Grunde legte (anstelle einer Leere), und der andere (Stalinismus) „Erzwingung des Unnennbaren“,war  insofern, als er die Ohnmacht seiner Wahrheit negierte und sie dadurch verriet.
Zwischen diesen zwei Formen des Bösen liegt dieses Schicksal einer vollkommenen Verlorenheit. Aus ihm ist kein Trost zu gewinnen, und kein politisches Kapital zu schlagen. Das völlige Misslingen dieser Existenz richtet sich auf wie ein Pfahl, weil diese Existenz die Treue zu einer Wahrheit (zu dieser einen Liebe) aufrichtet gegen alle Formen des Bösen, die ihr widerfahren und die sie („Dorle“) zugrunde richten. Es ist die Falschheit der Totalitarismen, die ihre Familie formt, und die Falschheit der Totalitarismen, die sie zerstört.
Und zugleich: Es sind ganz spezifische Politiken, die individuellen Menschen ihr Schicksal bestimmen. Es ist nicht das ganz „Andere“, das unvergleichlich Böse, sondern das von Menschen gemachte Politische, völlig Diesseitige und Banale, das dieses sehr konkrete Böse in die Welt brachte (und bringt), unter dem Menschen zerbrechen.

Wenn es denn so ist, dass diese Wahrheit, die Treue zu einer Liebe, der ungenannte Kern von Christine Berndts Arbeit „Dorle“ ist, so wird der hohe Grad von Artifizialität verständlich, mit dem sie diese Arbeit ins Werk setzt. Alle Authentizität ist ausgetrieben, denn Authentizität ist Surrogat.
In ähnlicher Weise verfuhr Christine Berndt in der Arbeit „Der Brief der Jüdin“, für welche sie Freunde bat, vor laufender Kamera den Brief einer Frau zu lesen, die im Ghetto von Tarnopol die Ermordung der Juden erlebte und beschrieb und schließlich selbst ermordet wurde. Das Unfassbare, ein Schlüsselwort im Text selbst, bleibt als ungenannter Kern in der Arbeit erhalten insofern, als der Inhalt des Textes so lange verborgen bleibt, bis der Betrachter der Arbeit sich die Mühe macht, ihn selbst zu lesen. Nichts wird durch die Arbeit selbst vermittelt als die Distanz, die Vermitteltheit, die absolute Unmöglichkeit von Authentizität.

Beide Arbeiten machen deutlich, dass das Gerede von Aufarbeitung und Bewältigung Unsinn ist. Das journalistische Geschwätz über die Bedeutung des Erinnerns und Mahnens, das von guten Absichten nur so strotzt und zu kolossalen Gedenkstätten führt, ist Phrasendrescherei, weil es die Unmöglichkeit leugnet, das Unnennbare zu nennen und es gerade deshalb zwanghaft beschwört. Was Wahrheit war in „Dorles“ Leben, bleibt in Christine Berndts Arbeit ausgespart, und diese Leerstelle, um die herum Bilder und Texte zirkulieren und sich Gesang erhebt, schlägt ein Loch in die Wände von Gewissheiten, hinter welchen die „öffentliche Meinung“ verbirgt, dass aus der Wahrheit von Salomea Rahel Ochs und der Wahrheit „Dorles“ keine „Lehre gezogen“ werden kann. Was die „öffentliche Meinung“ herausdestillieren wollte, kaschierte lediglich, dass Meinungen mit Wahrheit nichts zu tun haben. Und das Böse, das Salomea Rahel Ochs und „Dorle“ zerstörte, braucht nicht verstanden, sondern muss bekämpft werden. Von Militanz aber will die „öffentliche Meinung“ nichts wissen.

Vgl. Alain Badiou, Ethik (1993), Wien 2003.
„Jede Verabsolutierung der Macht einer Wahrheit bereitet ein Böses vor.“ Badiou, Ethik, S. 110.